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Der Menschenversuch

Veröffentlicht von PSM.Media

Es ist unverantwortlich, Pfizers and Modernas: zu 95 Prozent effektive Impfstoffe schon als sicher anzupreisen, bevor alle Daten vorliegen

von Peter Doshi

In den Vereinigten Staaten ist die Aufmerksamkeit ganz auf Pfizer und Moderna gerichtet. Die vorläufigen Ergebnisse zur Effektivität ihrer experimentellen Covid-19-Impfstoffstudien sind auf den ersten Blick erstaunlich. Pfizer gibt an, 170 Covid-19-Fälle (bei 44.000 Freiwilligen) verzeichnet zu haben, wobei es zu einer bemerkenswerten Verteilung kam: 162 Fällen in der Placebo-Gruppe standen 8 in der Impfstoff-Gruppe gegenüber. Gleichzeitig berichtet Moderna, 95 der 30.000 Freiwilligen in ihrer laufenden Studie hätten sich Covid-19 zugezogen: 90 mit Placebo gegenüber 5, die den Impfstoff erhielten, was beide Unternehmen veranlasste, eine Effektivität von rund 95 Prozent zu behaupten.

Lassen Sie uns das einordnen.

Zunächst wird eine relative Risikoreduktion berichtet, keine absolute Risikoreduktion, die bei weniger als 1 Prozent zu liegen scheint.

Zweitens beziehen sich diese Ergebnisse auf Covid-19, im Wesentlichen unabhängig vom Schweregrad, als den primären Endpunkt der Studien und — das ist wichtig — weder auf die Eignung des Impfstoffs, Leben zu retten, noch auf dessen Fähigkeit, Infektionen zu verhindern, noch auch auf die Effektivität in wichtigen Untergruppen (zum Beispiel bei gebrechlichen Hochbetagten). Das alles ist weiterhin unklar. Drittens reflektieren diese Ergebnisse einen Zeitpunkt relativ kurz nach der Impfung.

Wir wissen nichts über die Leistung der Impfung nach 3, 6 oder 12 Monaten, können also diese Effektivitäten nicht mit denen anderer Impfstoffe wie Grippeimpfstoffe vergleichen (welche über den Zeitraum einer Saison beurteilt werden). Viertens wurden Kinder, Heranwachsende und immungeschwächte Personen weitestgehend aus den Studien ausgeschlossen. Das heißt, uns fehlen immer noch jegliche Daten zu diesen wichtigen Bevölkerungsgruppen.

Ich habe schon früher argumentiert, dass die Studien den falschen Endpunkt untersuchen und dass es dringend geboten sei, eine Kurskorrektur vorzunehmen und wichtige Endpunkte wie die Verhütung einer schweren Erkrankung und die Übertragung auf Menschen aus der Hochrisikogruppe zu untersuchen. Obwohl es regulatorische Mechanismen gibt, die den Zugang zu Impfstoffen trotz hoher Hürden für die Zulassung sicherstellen — was gestatten würde, placebokontrollierte Studien lang genug fortzusetzen, um die wichtigen Fragen zu beantworten —, kann man sich schwer des Eindrucks erwehren, dass die Sponsoren den Sieg ausrufen und ihre Studien abschließen. Pfizer hat Studienteilnehmern bereits einen Brief zugesandt, in dem die Möglichkeit erörtert wird, vom Placebo zum Impfstoff „zu wechseln“. Die FDA wird nun unter enormem Druck stehen, die Impfstoffe schnell zu genehmigen.

Aber während die Diskussion zum Thema der Verteilung des Impfstoffs übergeht, sollten wir die Datenlage nicht aus dem Blick verlieren. Eine unabhängige Untersuchung der zugrundeliegenden Studiendaten wird die Vertrauens- und Glaubwürdigkeit der Ergebnisse erhöhen. Es könnte auch wichtige Einschränkungen der Gültigkeit der Studienergebnisse geben, derer wir uns bewusst sein sollten.

Am wichtigsten ist, dass wir datenbasierte Gewissheit darüber brauchen, dass die Blindheit der Studien nicht ungewollt aufgehoben wurde, womit ich meine, dass den Forschern oder den Freiwilligen nicht etwa vernünftige Rückschlüsse darüber möglich waren, zu welcher Gruppe sie gehörten. Verblindung ist am wichtigsten, wenn man subjektive Endpunkte wie symptomatisches Covid-19 misst, und Unterschiede zwischen Impfstoff und Placebo bei den Nebenwirkungen nach der Injektion könnten begründete Rückschlüsse ermöglicht haben. In der Vergangenheit war es bei placebokontrollierten Studien zu Influenza-Impfstoffen nicht möglich, die Verblindung des Impfstatus vollständig aufrecht zu erhalten, und die jüngste Panne mit „halber Dosierung“ bei der Studie des Oxforder Covid-19-Impfstoffs wurde offensichtlich nur entdeckt, weil Nebenwirkungen milder als erwartet ausfielen. (Und das ist nur eines von vielen Bedenken gegenüber der Oxford-Studie.)

Im Gegensatz zu normalen Placebos auf Basis einer Kochsalzlösung haben Studien in einer frühen Phase gezeigt, dass bei denen, die den Impfstoff erhielten, systemische und lokale Beeinträchtigungen verbreitet waren. In einer Pfizer-Studie erlitten beispielsweise mehr als die Hälfte der geimpften Teilnehmer Kopfschmerzen, Muskelschmerzen und Schüttelfrost — aber die Studien in den frühen Phasen waren klein, mit großen Datenunsicherheiten. Wenige Daten aus der große Phase-3-Studie sind bislang veröffentlicht. Moderna erklärt in seiner Pressemitteilung, dass 9 Prozent eine Myalgie (Muskelschmerz) dritten Grades und 10 Prozent eine Fatigue dritten Grades erlitten; die Pressemitteilung von Pfizer berichtete, dass 3,8 Prozent unter einer Fatigue dritten Grades und 2 Prozent unter Kopfschmerzen dritten Grades litten. Beeinträchtigungen dritten Grades, definiert als tägliche Aktivitäten verunmöglichend, werden als schwer betrachtet. Milde und moderate Reaktionen dürfen als weit häufiger angenommen werden.

Eine Möglichkeit, wie die Rohdaten der Studien ein informiertes Urteil erleichtern könnten, ob irgendeine potentielle Beeinträchtigung der Verblindung die Ergebnisse beeinflusst haben könnte, besteht darin, zu analysieren, wie oft Personen mit Covid-19-Symptomen zum bestätigenden SARS-CoV-2-Test überwiesen wurden. Ohne Überweisung zur Testung kann ein mutmaßlicher Covid-19-Fall nicht zu einem bestätigten Covid-19-Fall werden. Dies ist also ein entscheidender Schritt, damit der Fall als primäres Ereignis gezählt wurde: laborbestätigtes, symptomatisches Covid-19. Da einige der Beeinträchtigungen durch die Impfung gleichzeitig auch Covid-19-Symptome sind (zum Beispiel Muskelschmerzen), ist zu erwarten, dass bei einem größeren Anteil der Personen, die den Impfstoff erhalten haben, ein Abstrich genommen und ein Test auf SARS-CoV-2 durchgeführt wurde, als bei denen, die das Placebo erhalten haben.

Das geht von der Annahme aus, dass alle Personen mit Symptomen getestet wurden, wie man erwarten sollte. Die Studienprotokolle für die Studien von Moderna und Pfizer enthalten jedoch die explizite Instruktion an die Untersuchenden, ihre klinische Urteilsfähigkeit einzusetzen, um zu entscheiden, ob jemand zum Test überwiesen werden sollte. Moderna formuliert es so:

„Es ist wichtig anzumerken, dass einige der Covid-19-Symptome Überschneidungen mit den stimulierten unerwünschten systemischen Reaktionen aufweisen, die nach einer Impfung mit mRNA-1273 erwartet werden (zum Beispiel Myalgie, Kopfschmerzen, Fieber, und Schüttelfrost). Innerhalb der ersten 7 Tage nach der Impfung, in denen diese stimulierten unerwünschten Reaktionen häufig sind, sollten Untersuchende auf Basis ihrer klinischen Urteilsfähigkeit entscheiden, ob ein Nasopharynxabstrich genommen werden sollte.“

Das läuft darauf hinaus, Untersuchende dazu aufzufordern, Vermutungen darüber anzustellen, zu welcher Interventionsgruppe Patienten gehören. Wie sollen aber, wenn sich Erkrankung und Impfnebenwirkungen überlappen, Ärzte die Ursache ohne einen Test beurteilen? Und warum hat man sie überhaupt darum gebeten?

Wichtig ist, dass die Anweisungen sich nur auf die ersten sieben Tage nach der Impfung beziehen und unklar bleibt, welche Rolle das ärztliche Urteil in den Schlüsseltagen danach spielen könnte, wenn Covid-19-Fälle im Hinblick auf den primären Endpunkt zu zählen beginnen könnten. (Für Pfizer ist dies 7 Tage nach der zweiten Dosis der Fall, für Moderna 14 Tage.)

In einer ordnungsgemäßen Studie hätten alle Fälle von Covid-19 aufgenommen werden müssen, egal in welchem Arm der Studie ein Fall aufgetreten ist.

(In der Begrifflichkeit der Epidemiologie sollte es keinen Erfassungsbias oder differentiellen Messfehler geben). Es ist in der Covid-Ära schon zum Gemeingut geworden: „testen, testen, testen“. Aber wenn Überweisungen zum Testen nicht an alle Personen mit Covid-19-Symptomen ergangen sind — zum Beispiel, weil man davon ausging, dass Symptome Nebenwirkungen der Impfung waren —, könnten Fälle nicht gezählt worden sein.

Auch die Daten über Schmerzmittel und fiebersenkende Medikamente verdienen sorgfältige Untersuchung. Symptome, die auf eine SARS-CoV-2-Infektion zurückgehen (zum Beispiel Fieber und Körperschmerzen) können durch Schmerzmittel und fiebersenkende Medikamente unterdrückt werden. Wenn Menschen in der Impf-Gruppe solche Medikamente häufiger oder länger als die in der Placebogruppe prophylaktisch genommen haben, könnte dies zur stärkeren Unterdrückung von Covid-19-Symptomen im Anschluss an eine SARS-CoV-2-Infektion in der Impfgruppe geführt haben, was eine verminderte Wahrscheinlichkeit einer Covid-19-Verdachtsdiagnose nach sich zöge, eine verminderten Wahrscheinlichkeit einer Testung und damit eine verminderte Wahrscheinlichkeit, den primären Endpunkt zu erfüllen. Bei einem solchen Szenario wäre der Effekt aber durch die Medikamente hervorgerufen worden, nicht durch die Impfung.

Weder Moderna noch Pfizer haben irgendeine Auswahl der schriftlichen Materialien, die den Patienten ausgehändigt wurden, veröffentlicht. Es ist also unklar, welche Anweisungen den Patienten gegeben wurden — falls dies überhaupt geschah — hinsichtlich des Gebrauchs von Medikamenten, um Nebenwirkungen im Anschluss an die Impfung zu behandeln. Das Formular für die Erklärung des informierten Einverständnisses aus Johnson and Johnsons Impststoffstudie enthält solche Empfehlungen:

„Im Anschluss an die Verabreichung von Ad26.COV2.S scheinen Fieber, Muskelschmerzen und Kopfschmerzen bei jüngeren Erwachsenen häufiger zu sein und können schwerwiegend sein. Aus diesem Grund empfehlen wir, einen Fiebersenker oder ein Schmerzmittel zu nehmen, wenn nach der Impfung Symptome auftreten oder auf Anraten ihres Studienarztes.“

Hinter der Meldung, die Impfung sei zu „95 Prozent effektiv“ mag mehr Komplexität stecken, als es den Anschein hat, oder auch nicht. Nur vollständige Transparenz und eine sorgfältige Untersuchung der Daten ermöglichen eine informierte Entscheidungsfindung. Die Daten müssen öffentlich gemacht werden.

Über Peter Doshi

Er ist Mitherausgeber von The BMJ. Er lebt in Baltimore und ist außerdem Assistenzprofessor für pharmazeutische Versorgungsforschung an der University of Maryland School of Pharmacy. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf der Bewertung von Arzneimittelsicherheit und -wirksamkeit im Kontext von Regulierung, evidenzbasierter Medizin und Debatten über den Zugang zu Daten. Doshi hat auch ein starkes Interesse an Journalismus als Mittel zur Förderung einer besseren Praxis und zur Verbesserung des Forschungsbetriebs. Er absolvierte ein Stipendium in vergleichender Wirksamkeitsforschung am Johns Hopkins und promovierte am Massachusetts Institute of Technology in den Fächern Geschichte, Anthropologie und Wissenschaft, Technologie und Gesellschaft.

Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien unter dem Titel „Let’s be cautious and first see the full data“. Er wurde vom ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzerteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratteam lektoriert.

 

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Initiative zur Demokratisierung der Meinungsbildung gGmbH, 21.01.2021, Foto: Systembild © Hakan