Spiegel-Fälscher Relotius gibt Interview
Claas Relotius stürzte im Dezember 2018 den deutschsprachigen Journalismus in eine Krise. Nun äussert er sich erstmals öffentlich.
Berlin. Nicht böse gemeint: “Wahrscheinlich die allerwenigsten” seiner 120 Texte seien korrekt gewesen, erzählt Claas Relotius dem Schweizer Magazin “Reportagen”. Mit einem mehr als 90 Fragen umfassenden Interview bricht der Ex-“Spiegel”-Reporter sein Schweigen nach Bekanntwerden des Betrugsskandals vor knapp zweieinhalb Jahren. Er habe “beim Schreiben nie niederträchtige Absichten” gehabt und bereue es, Menschen verletzt zu haben.
Er habe “riesigen Mist gebaut” erklärt Claas Relotius in seinem ersten Interview zweieinhalb Jahre nach Bekanntwerden des Fälschungsskandals beim Magazin Der Spiegel. Der heute 35-Jährige arbeitete jahrelang beim Hamburger Nachrichtenmagazin und sorgte letzten Endes für die bislang größte Krise in dem Medienhaus. Es wurde bekannt, dass er Reportagen mit erfundenen Personen, Zitaten oder Szenen oder gar komplett ausgedachte Geschichten geliefert hatte. Relotius war für das Gesellschaftsressort tätig, nach Bekanntwerden der Affäre war seine Karriere beim Spiegel vorbei.
Redakteure der Schweizer Zeitschrift Reportagen, für die er vor Jahren als freier Journalist auch Texte geschrieben hatte, stellten dem früheren Spiegel-Reporter mehr als 90 Fragen und veröffentlichten alles am Dienstag auf ihrer Webseite. Mit dem Medium sprach Relotius, weil er nach eigener Aussage versuchen wolle, zu erklären, warum er das getan habe.
Auf die Frage, wie viele seiner insgesamt 120 verfassten Texte in seiner Journallistenzeit korrekt waren, antwortete er:
“Nach allem, was ich heute über mich weiß, wahrscheinlich die allerwenigsten. Bei einigen Texten kann ich es einfach nicht sicher sagen. Ich bin erschrocken über mich selbst, noch immer, und es tut mir aufrichtig leid.”
[“…] Ich habe in der unverrückbaren Überzeugung geschrieben, es würde bei der Reportage keinen Unterschied machen, ob alles 1:1 der Realität entspricht oder nicht. Als seien Reportagen ohnehin nie Tatsachenberichte, sondern immer Geschichten, also verdichtete, konstruierte Wirklichkeiten, und als ginge es in erster Linie darum, Leserinnen und Lesern ein Thema so nahe wie möglich zu bringen. Ich habe es mir damit leicht gemacht und das offensichtlich Falsche für das Richtige halten wollen.”
… über den Grund seiner Täuschungen:
“Ich bin ehrgeizig, aber das habe ich nicht aus Ehrgeiz getan. Ich habe mich damit immer wieder über Realitätsverluste hinweggetäuscht, habe damit auch Menschen in meinem Umfeld getäuscht. Kollegen, die ich schätze. Menschen, die ich liebe. Die Abwehr, an mir selbst und teilweise auch an meinem Verstand zu zweifeln, war so groß, dass mich kaum etwas anderes dazu gezwungen hätte als dieser Skandal.”
… über Realitätsverlust:
“Ich habe nicht vor jedem Text eine Wahl treffen müssen. Ich musste mir nichts schön-reden. Ich hatte nicht mehr das Gefühl, eine Grenze zu überschreiten, und stand beim Schreiben auch nie vor der Frage, ob ich das so machen kann. Ich habe das offensichtlich Falsche nicht nur verdrängt, sondern vollständig ausgeblendet. In meinem Alltag liefen sehr große Widersprüche fast ständig nebeneinander her.”
… über sein Gewissen:
“Ich kann das nicht erklären, aber ich hatte jahrelang nie Angst, nie Zweifel, auch nie ein schlechtes Gewissen.”
… über Verantwortung:
“Ich habe offensichtlich sehr viel Verantwortungsgefühl ausgeschaltet, am meisten gegenüber Kollegen, aber auch gegenüber realen Menschen, über die ich geschrieben habe. Ich hatte beim Schreiben nie niederträchtige Absichten, und ich wollte auch niemanden verletzen, indem ich etwas Falsches schreibe. Dass ich das getan habe, bereue ich am meisten.”
… über Juan Moreno:
“Ich kenne Juan Moreno nicht persönlich, bin ihm aber ernsthaft dankbar, dass er mich im Dezember 2018 indirekt gezwungen hat, mich Problemen und Verhaltensweisen zu stellen, die ich schon lange nicht mehr sehen konnte. Was seine Buchveröffentlichung betrifft, wäre ich ihm noch dankbarer gewesen, hätte er mich als den Menschen bloßgestellt, der ich auch bin.”
Hintergrund: Relotius hatte für den Spiegel Reportagen geschrieben, die fehlerhaft waren, und die zum Teil erfundene Szenen, Gespräche und Ereignisse enthielten. Er war als Journalist mit Preisen überhäuft worden und genoss hohes Ansehen. Der Spiegel machte den Betrugsfall selbst öffentlich und arbeitete diesen akribisch auf. Relotius, der damals für das Gesellschaftsressort tätig war, hatte die Fehler laut Spiegel eingeräumt. Seine Karriere bei dem Nachrichtenmagazin war vorbei. Es folgten weitere personelle Konsequenzen im Haus, das Magazin überarbeitete zudem seine redaktionellen Standards.
Viele andere deutsche Redaktionen steuerten bei ihren Quellenchecks nach. Für das Magazin in der Schweiz, das das Interview nun veröffentlichte, hatte Relotius in seiner Journalisten-zeit ebenfalls mehrere Texte geschrieben.
RT/PSM/Presse.Online, Foto: Der Betrugsfalls um den ehemaligen „Spiegel“-Journalisten Claas Relotius © turi2.de