Japans nächster Premierminister muss schnell arbeiten, was das Virus, die Wirtschaft und China angeht
Mit Fumio Kishida schickt sich ein erfahrener Außenpolitiker an, Japans neuer Premier zu werden. Er gibt sich als Reformer, der vieles anders machen will, als sein Vorgänger. Vor allem will er zuhören.
Japans nächster Premierminister muss schnell arbeiten, was das Virus, die Wirtschaft und China angeht.” Die Titelzeile, die das “Asahi Shimbun” am Dienstag für ihren wichtigsten Politikartikel des Tages wählte, war beachtlich. Denn eigentlich diskutierte die linksliberale und zweitgrößte Zeitung Japans unter dieser Überschrift bloß die Wahl zum neuen Vorsitz der regierenden Liberaldemokratischen Partei (LDP) am Mittwoch. Aber de facto ging es bei der Abstimmung eben um viel mehr als die Führung der Konservativen. Es ging zugleich um die Regierung ganz Japans.
Anfang September hatte der unbeliebte Premierminister Yoshihide Suga verkündet, dass er bei der auf Mittwoch vorgezogenen Wahl zum Parteivorsitz der regierenden LDP nicht erneut antreten würde. Und weil bei Japans Konservativen die Regel gilt, dass ein Premierminister aus ihrem Lager auch gleichzeitig den Parteivorsitz haben muss, war das Scheiden Sugas als LDP-Chef gleichbedeutend mit einem Rücktritt als Japans Regierungschef. Über Wochen fragte sich Japan nun, wer der nächste Premier wird. Aber entscheiden würde dies nur die mächtigste Partei in dem 125-Millionen-Einwohner-Land.
LDP erhebt Anspruch, alle Unterschiede abzubilden
Der neue Mann an der Regierungsspitze Japans heißt nun Fumio Kishida. Sobald er am Montag im von der LDP dominierten Parlament bestätigt worden ist, regiert er Japan zunächst für rund zwei Monate, bis im November die Wahl zum Unterhaus ansteht, der mächtigeren von zwei Parlamentskammern.
Dabei deutet schon die Titelzeile des Artikels im “Asahi Shimbun” vom Dienstag an, worauf die Angelegenheit wohl hinauslaufen wird: Nach der formal viel wichtigeren Parlamentswahl im November dürfte sich nichts ändern, was den Premierminister angeht. Das wirklich entscheidende Votum fand am Mittwoch parteiintern statt.
Japan ist die älteste liberale Demokratie Asiens, wird von westlichen Staaten gern als “Wertepartner” gelobt. Aber in der drittgrößten Volkswirtschaft der Welt funktioniert Demokratie anders als in Europa oder Nordamerika.
Seit Ende des Zweiten Weltkriegs hat mit einer kurzen Unterbrechung immer eine Kraft regiert – die konservative Liberaldemokratische Partei. Sie gilt als Architektin eines bis 1990 über Jahrzehnte anhaltenden Wachstumswunders, ist in Wirtschaft, Forschung, Medien und selbst Zivilgesellschaft so gut vernetzt wie keine andere Partei. Innerhalb der LDP wird sogar der Anspruch erhoben, die entscheidenden politischen Unterschiede selbst abzubilden. Weitere Parteien wären demnach gar nicht nötig.
Fumio Kishida stammt wie viele Volksvertreter in Japan aus einer Politikerdynastie, schon sein Vater und sein Großvater waren Abgeordnete. Von 2012 bis 2017 diente er als Außenminister unter dem nationalistisch eingestellten Shinzo Abe, der bis vor einem guten Jahr regierte, ehe er nach schweren Popularitätsverlusten offiziell aus gesundheitlichen Gründen zurücktrat. Der 64-jährige Kishida wäre schon damals gerne Abes Nachfolger geworden, verlor aber den parteiinternen Entscheid gegen Abes vorigen Chefsekretär Yoshihide Suga.
Kishidas Glück ist, dass er seit Beginn der Corona-Krise keinen Ministerposten besetzt hat. In dieser Zeit gerieten die LDP und deren Vertreter bei der Bevölkerung weitgehend in Misskredit. In der Pandemie regierten sie abwartend. Beim Festhalten an den unpopulären und als unsicher empfundenen Olympischen Spielen von Tokio diesen Sommer verhielten sie sich dagegen kompromisslos. Am Ende des kontroversen Sportsommers trat ein unbeliebt gewordener Suga zurück.
Und nun ist die Zeit von Fumio Kishida gekommen. In früheren Jahren galt er als relativ liberaler Politiker. Auf der Suche nach innerparteilicher Unterstützung jenseits des eines einzigen Lagers hat er zuletzt aber höhere Verteidigungsausgaben und eine harte Linie gegenüber China gefordert. Pandemiepolitisch schlägt er populäre Töne an: Nach langem Chaos der Regierungen von Abe und Suga will Kishida nun eine zentrale Behörde kreieren, die die Maßnahmen gegen die Pandemie steuern soll.
Wirtschaftspolitisch plädiert er hingegen für etwas Umverteilung, um die inmitten der Pandemie gewachsene Ungleichheit zu mindern. Gleichzeitig will Kishida möglichst keine Steuererhöhungen, vor allem die mit zehn Prozent eher geringe Mehrwertsteuer möchte er nicht weiter anheben – wenngleich diese für Steuereinnahmen sorgen könnte.
Zerstrittene Opposition und geringe Wahlbeteiligung
Seit rund zwei Wochen hat die Diskussion über den LDP-Vorsitz die Diskussion in den meisten japanischen Medien dominiert. Über die Parlamentswahl in zwei Monaten wird weniger gesprochen. Denn da hat die LDP kaum Konkurrenz. Seit dem Fukushima-Atomunglück vor zehn Jahren, als ausnahmsweise die linksliberale Demokratische Partei regierte und eineinhalb Jahre später abgewählt wurde, ist die Opposition zerstritten. Laut Umfragen des öffentlichen Rundfunksenders NHK wollen 37 Prozent der Menschen die LDP wählen, auf Platz zwei liegt die Verfassungsdemokratische Partei, die vor einigen Jahren aus der Spaltung der Demokratischen Partei hervorging. Sie kommt derzeit auf 5,5 Prozent.
40 Prozent der Befragten sind unentschlossen – und werden womöglich gar nicht wählen gehen. Die Wahlbeteiligung ist in den Jahren nach dem Atomdesaster rapide gesunken, die Politikverdrossenheit gestiegen, nicht zuletzt wegen des Festhaltens der Regierung an der unbeliebten Atomkraft. Für die LDP bedeutet das, dass sie sich vor mitstreitenden Parteien kaum fürchten muss.
APA/ARD/Presse.Online, Foto: Der einstige Außenminister Fumio Kishida (r.) beerbt Yoshihide Suga als Premier © Kim Kyung-Hoon