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EuGH-Urteil zur Unabhängigkeit der Justiz in Polen

Veröffentlicht von PSM.Media

Es geht um die Frage, ob Richterernennungen in Polen rechtswidrig sind

Der Europäische Gerichtshof fällt am Mittwoch erneut ein Urteil über die Vereinbarkeit der polnischen Justizreformen mit EU-Recht. Konkret geht es um die Frage, ob die Ernennung einiger Richter des Obersten Gerichts in Polen rechtswidrig ist. Die nationalkonservative PiS-Regierung baut das Justizwesen des Landes seit Jahren ungeachtet internationaler Kritik um und setzt Richter damit unter Druck.

Nicht einvernehmliche Versetzungen von Richtern an andere Gerichte oder zwischen zwei Abteilungen desselben Gerichts können die Grundsätze der Unabsetzbarkeit von Richtern und der richterlichen Unabhängigkeit verletzen.

Der Beschluss, mit dem ein letztinstanzlich und als Einzelrichter entscheidender Spruchkörper den Rechtsbehelf eines Richters zurückgewiesen hat, der gegen seinen Willen versetzt wurde, ist als nicht existent anzusehen, wenn die Ernennung dieses Einzelrichters unter offensichtlicher Verletzung der Grundregeln erfolgt ist, die Bestandteil der Errichtung und der Funktionsfähigkeit des betroffenen Justizsystems sind.

Im August 2018 wurde der Richter W.Ż. von der Abteilung des Sąd Okręgowy w K. (Regionalgericht K., Polen), in der er bis dahin tätig war, in eine andere Abteilung dieses Gerichts versetzt. Er legte gegen diese Entscheidung einen Rechtsbehelf bei der Krajowa Rada Sądownictwa (Landesjustizrat, Polen, im Folgenden: KRS) ein, die mit Entschließung vom 21. September 2018 das Verfahren über seinen Rechtsbehelf einstellte. Daraufhin legte W.Ż. gegen diese Entschließung einen Rechtsbehelf beim Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) ein.

Parallel zu diesem Rechtsbehelf beantragte W.Ż. die Ablehnung sämtlicher Richter des Sąd Najwyższy, die der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten (im Folgenden: Kammer für außerordentliche Überprüfung) dieses Gerichts angehörten, die grundsätzlich für die Entscheidung über diesen Rechtsbehelf zuständig war. Er trug vor, dass die Mitglieder dieser Kammer wegen der Umstände ihrer Ernennung nicht die erforderliche Gewähr für Unabhängigkeit und Unparteilichkeit böten.

W.Ż. machte u. a. geltend, der Vorschlag für die Ernennung sämtlicher in der Kammer für außerordentliche Überprüfung tätigen und vom Ablehnungsantrag erfassten Personen zum Richter am Sąd Najwyższy sei in der Entschließung Nr. 331/2018 der KRS vom 28. August 2018 enthalten gewesen. Diese Entschließung war in ihrer Gesamtheit mit einem Rechtsbehelf angefochten worden, den andere Teilnehmer am Ernennungsverfahren, die von der KRS nicht für die Ernennung zum Richter am Sąd Najwyższy durch den Präsidenten der Republik Polen vorgeschlagen worden waren, beim Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht, Polen) eingelegt hatten. Ungeachtet dieses Rechtsbehelfs und der vom Obersten Verwaltungsgericht angeordneten Aussetzung der Vollziehung dieser Entschließung ernannte der Präsident der Republik einige der in dieser Entschließung vorgeschlagenen Bewerber zu Richtern der Kammer für außerordentliche Überprüfung.

Trotz der anhängigen Verfahren ernannte der Präsident der Republik Polen A.S. am 20. Februar 2019 auf der Grundlage der Entschließung Nr. 331/2018 der KRS zum Richter am Sąd Najwyższy in der Kammer für außerordentliche Überprüfung. Am 8. März 2019, kurz vor Beginn der mündlichen Verhandlung der Zivilkammer des Sąd Najwyższy, die über den Ablehnungsantrag zu entscheiden hatte, erließ A.S. als Einzelrichter der Kammer für außerordentliche Überprüfung, ohne über die Akte zu verfügen und ohne W.Ż. anzuhören, einen Beschluss, mit dem er den Rechtsbehelf von W.Ż. als unzulässig zurückwies.

Vor diesem Hintergrund hat die Zivilkammer des Sąd Najwyższy den Gerichtshof um Vorabentscheidung ersucht.

In seinem heutigen Urteil weist der Gerichtshof zunächst darauf hin, dass der Grundsatz des wirksamen gerichtlichen Schutzes der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts ist, der sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergibt, der in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Art. 6 und 13) und nun auch in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) (Art. 47) verankert ist. Sodann stellt er fest, dass ein polnisches Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit wie ein Sąd Okręgowy (Regionalgericht), dem W.Ż. als Richter angehört, zur Entscheidung über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts berufen sein kann und daher als „Gericht” im Sinne des Unionsrechts Bestandteil des polnischen Rechtsbehelfssystems in den „vom Unionsrecht erfassten Bereichen“ im Sinne des EU-Vertrags (Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2) ist. Um zu gewährleisten, dass ein solches Gericht in der Lage ist, den erforderlichen wirksamen Rechtsschutz sicherzustellen, ist die Wahrung seiner Unabhängigkeit von grundlegender Bedeutung.

Nicht einvernehmliche Versetzungen von Richtern an andere Gerichte oder zwischen zwei Abteilungen desselben Gerichts können potenziell die Grundsätze der Unabsetzbarkeit von Richtern und der richterlichen Unabhängigkeit verletzen. Solche Versetzungen können nämlich ein Mittel zur Kontrolle des Inhalts gerichtlicher Entscheidungen sein, da sie nicht nur den Umfang der Befugnisse der betreffenden Richter und die Bearbeitung der ihnen zugewiesenen Fälle beeinflussen können, sondern auch erhebliche Auswirkungen auf ihr Leben und ihre Laufbahn und damit entsprechende Wirkungen wie eine Disziplinarstrafe haben können. In diesem Zusammenhang stellt der Gerichtshof klar, dass die für nicht einvernehmliche Versetzungen von Richtern geltende Regelung – ebenso wie eine Disziplinarordnung – nach dem Erfordernis der richterlichen Unabhängigkeit insbesondere die erforderlichen Garantien aufweisen muss, damit jegliche Gefahr vermieden wird, dass diese Unabhängigkeit durch unmittelbare oder mittelbare Einflussnahmen von außen beeinträchtigt wird. Deshalb ist es wesentlich, dass solche nicht einvernehmlichen Versetzungsmaßnahmen, selbst wenn sie – wie im Kontext des Ausgangsverfahrens – vom Präsidenten des Gerichts, dem der von ihnen betroffene Richter angehört, außerhalb des Rahmens der Disziplinarordnung für Richter getroffen werden, nur aus berechtigten Gründen beschlossen werden dürfen. Diese liegen insbesondere in der Verteilung der verfügbaren Ressourcen, um eine ordnungsgemäße Rechtspflege gewährleisten zu können. Ebenso ist wesentlich, dass solche Entscheidungen vor den Gerichten nach einem Verfahren angefochten werden können, das die in der Charta verankerten Rechte, insbesondere die Verteidigungsrechte, in vollem Umfang gewährleistet.

Der Gerichtshof äußert sich schließlich zu der Frage, ob A.S. in Anbetracht der Umstände, unter denen seine Ernennung erfolgt ist, als ein „unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht im Sinne des Unionsrechts“ anzusehen ist. Zusammen betrachtet können diese Umstände (nämlich die Tatsache, dass 1. die Ernennung von A.S. zum Richter in der Kammer für außerordentliche Überprüfung unter Verstoß gegen die rechtskräftige Entscheidung des Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) erfolgte, mit der die Aussetzung der Vollziehung der Entschließung Nr. 331/2018 angeordnet worden war, 2. diese Ernennung erfolgte, ohne das Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache A.B. u. a. (Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf), C-824/18 (vgl. auch Pressemitteilung Nr. 31/21), abzuwarten, was die Wirksamkeit des durch Art. 267 AEUV geschaffenen Vorabentscheidungssystems beeinträchtigt hat, 3. die Unabhängigkeit der KRS, die A.S. zur Ernennung vorgeschlagen hat, Anlass zu berechtigten Zweifeln gibt, 4. die Ernennung und der fragliche Unzulässigkeitsbeschluss ergingen, obwohl der Sąd Najwyższy (Izba Cywilna) (Oberstes Gericht [Zivilkammer]) mit einem Antrag auf Ablehnung sämtlicher Richter befasst war, die ursprünglich zu Richtern der Kammer für außerordentliche Überwachung ernannt worden waren) – vorbehaltlich der insoweit vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden abschließenden Würdigung – zum einen den Schluss zulassen, dass die Ernennung des betreffenden Richters unter offensichtlicher Missachtung der Grundregeln des Verfahrens für die Ernennung von Richtern am Sąd Najwyższy erfolgt ist, die Bestandteil der Errichtung und der Funktionsfähigkeit des polnischen Justizsystems sind. Unter demselben Vorbehalt kann das vorlegende Gericht zum anderen aus all diesen Umständen auch den Schluss ziehen, dass die Bedingungen, unter denen die Ernennung des betreffenden Richters erfolgt ist, die Integrität des Ergebnisses dieses Ernennungsverfahrens beeinträchtigt haben, indem sie nicht nur dazu beigetragen haben, bei den Rechtsunterworfenen berechtigte Zweifel an der Unempfänglichkeit dieses Richters für äußere Faktoren und an seiner Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen aufkommen zu lassen, sondern auch dazu, dass dieser Richter nicht den Eindruck vermittelt, unabhängig und unparteiisch zu sein, wodurch das Vertrauen beeinträchtigt werden könnte, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft und in einem Rechtsstaat bei den Rechtsunterworfenen schaffen muss.

Kommt das vorlegende Gericht zu solchen Ergebnissen, wird davon auszugehen sein, dass die Umstände, unter denen die Ernennung des betreffenden Richters erfolgt ist, im vorliegenden Fall geeignet waren, auszuschließen, dass er in der Besetzung als Einzelrichter ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht darstellen konnte, und ihn daran zu hindern, in dieser Besetzung über eine nicht einvernehmliche Versetzung eines Richters zu entscheiden, der wie W.Ż. mit der Auslegung und Anwendung des Unionsrechts befasst werden kann. In diesem Fall müsste der streitige Unzulässigkeitsbeschluss nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts als nicht existent angesehen werden, ohne dass eine Bestimmung des nationalen Rechts dem entgegenstehen könnte.

Der Gerichtshof schließt daraus, dass ein nationales Gericht, das mit einem Ablehnungsantrag im Zusammenhang mit einem Rechtsbehelf befasst ist, mit dem ein Richter, der in einem Gericht tätig ist, das Unionsrecht auslegen und anwenden kann, eine Entscheidung anficht, durch die er ohne seine Zustimmung versetzt wurde, einen Beschluss als nicht existent anzusehen hat, mit dem ein letztinstanzlich und als Einzelrichter entscheidender Spruchkörper diesen Rechtsbehelf zurückgewiesen hat, wenn eine solche Folge in Anbetracht der in Rede stehenden Verfahrenslage unerlässlich ist, um den Vorrang des Unionsrechts zu gewährleisten, und wenn sich aus der Gesamtheit der Bedingungen und Umstände, unter denen das Verfahren zur Ernennung dieses Einzelrichters stattgefunden hat, ergibt, dass die Ernennung unter offensichtlicher Verletzung der Grundregeln erfolgt ist, die Bestandteil der Errichtung und der Funktionsfähigkeit des betroffenen Justizsystems sind, und dass die Integrität des Ergebnisses dieses Ernennungsverfahrens dadurch gefährdet ist, dass bei den Rechtsunterworfenen berechtigte Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des betreffenden Richters geweckt werden, so dass der genannte Beschluss nicht als von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht erlassen angesehen werden kann.

 

Pressemitteilung des EuGH Nr. 173/2021 v. 06.10.2021/Presse.Online, Foto: Systembild EuGH-Urteil zur Unabhängigkeit der Justiz in Polen © Istock