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Krieg und Frieden in den Medien

Veröffentlicht von PSM.Media

Der Ausnahmefall

In manchen Fällen sollte man eine Nachricht auch publizieren, wenn sie nicht durch eine zweite Quelle abgesichert ist. Exklusivabdruck aus „Krieg und Frieden in den Medien“.

Was war passiert?

Unter dem Titel „Krieg und Frieden in den Medien“ hat die Juristenvereinigung IALANA zusammen unter anderem mit dem Zentrum Ökumene der Evangelischen Kirche Hessen-Nassau und der Evangelischen Kirche Kurhessen-Waldeck zu einer dreitägigen Konferenz in die Jugendkulturkirche CROSS in Kassel geladen. Es geht um die Frage, ob man ein Leitbild „Friedensjournalismus“ etablieren kann.

Andreas Zumach nimmt innerhalb des Tagungsprogramms an einer Podiumsdiskussion zum Thema „Was lernen wir? Wie mit Propaganda umgehen?“ teil. Im Laufe der Diskussion geht der taz-Journalist näher auf die gestellte Frage ein und sagt, was aus seiner Sicht notwendig ist, nämlich: mehr Zeit, mehr journalistische Sorgfaltspflicht, mehr Mut. Bei seinen Ausführungen zum Punkt „mehr journalistische Sorgfaltspflicht“ betont der taz-Korrespondent, wie wichtig es für Journalisten sei, darauf zu achten, bei eigenrecherchierten Nachrichten stets zwei voneinander unabhängige Quellen zu haben, auf die man sich bei seiner Berichterstattung stützen könne. Dabei erzählt er die Geschichte, die es in sich hat. Sie spielt im Vorfeld des Kosovo-Krieges von 1999.

Rückblick: 24. März 1999

An diesem Tag beginnen Streitkräfte der NATO-Staaten, darunter die USA und Deutschland, mit der Bombadierung der Bundesrepublik Jugoslawien („Kosovo-Krieg“). Einen Tag zuvor waren in Schloss Rambouillet in der Nähe von Paris die von der NATO und der EU unter Beteiligung Russlands erzwungenen Verhandlungen zwischen der Bundesrepublik Jugoslawien und Vertretern der Kosovo-Albaner gescheitert. Es ging dabei um den so genannten „Vertrag von Rambouillet“. Nachdem die Bundesrepublik Jugoslawien sich geweigert hatte, diesen von der NATO ausgearbeiteten Vertrag zu unterzeichnen und stattdessen einen eigenen Vertragsentwurf vorlegte, setzte die NATO nach einer Verhandlungsunterbrechung schließlich dem Land eine Frist. Bis zum 23. März sollte der Vertrag „unter Dach und Fach“ sein. Wenn nicht, würde die NATO sofort militärisch intervenieren, um eine „humanitäre Katastrophe“ im Kosovo zu verhindern.

Problem: Der Vertragsentwurf enthielt einen über Wochen hinweg bis kurz vor Ende der Verhandlungen vor der jugoslawischen Verhandlungsdelegation und auch vor dem russischen Delegationsleiter geheim gehaltenen Anhang („Annex B“). Darin wurden Forderungen wie die freie Beweglichkeit der NATO in ganz Jugoslawien, einschließlich des Luftraumes und der See, und ihrer Nutzung für Manöver, Training und andere Operationen (Artikel 8), die völlige Immunität von NATO und NATO-Personal gegenüber jugoslawischen Behörden (Artikel 6) und die kostenlose Nutzung der gesamten Infrastruktur Jugoslawiens (Artikel 10) festgeschrieben. Dies hätte faktisch einer Besetzung des Landes Tür und Tor geöffnet.

Zurück zu Zumach

Nach eigenen Worten erhielt Zumach bereits am 5. Februar 1999, also am ersten Tag der „Rambouillet-Verhandlungen“, aus den Reihen der UCK-Delegation der Kosovo-Albaner den Annex B zum NATO-Vertragsentwurf. Zumach erkannte sofort die Brisanz des Dokumentes und wollte es veröffentlichen. Allerdings hielt er sich eisern an die „Zwei-Quellen-Regel“ und versuchte, die Informationen, die in Annex B zu finden waren, von einer weiteren Quelle bestätigt zu bekommen, um sicher zu gehen, dass er keine falschen Informationen verbreiten würde. Doch seine Versuche, so erzählte es der Journalist in Kassel, scheiterten. Er entschied sich deshalb gegen die Veröffentlichung.

Erst am 6. April, also gut zwei Monate später und damit erst etwa zwei Wochen nach dem Beginn des NATO-Krieges, den das NATO-Bündnis ohne Ermächtigung durch den UN-Sicherheitsrat und damit unter Verletzung der UN-Charta führte, veröffentlichte die taz seinen Text mit den brisanten Artikeln 6, 8 und 10 aus dem Annex B — nachdem Zumach die Echtheit des Dokumentes von einer weiteren Quelle bestätigt worden war. Die taz war, laut Zumach, das erste Medium, das über den Annex B berichtete.

Brisanz

Der Annex B war deshalb brisant, weil an ihm deutlich wurde, welch weit reichenden Befugnisse die NATO sich in der Bundesrepublik Jugoslawien einräumen lassen wollte. Die SPD-Abgeordnete Andrea Nahles erklärte damals nach Bekanntwerden des Anhangs, mit dem Annex sei „den Serben quasi ein Besatzungsstatut aufdiktiert“ worden. Es sei „vollkommen klar“ gewesen, so auch die damalige Grünen-Abgeordnete Angelika Beer, „dass Milosevic so etwas nicht unterschreiben konnte“. Und der frühere US-Außenminister Henry Kissinger soll später, als er von „Annex B“ erfuhr, gesagt haben:

„Der Rambouillet-Text, der Serbien dazu aufrief, den Durchmarsch von NATO-Truppen durch Jugoslawien zu genehmigen, war eine Provokation, eine Entschuldigung dafür, mit den Bombardierungen beginnen zu können. Kein Serbe mit Verstand hätte Rambouillet akzeptieren können. Es war ein ungeheuerliches diplomatisches Dokument, das niemals in dieser Form hätte präsentiert werden dürfen. […] Die Serben haben sich vielleicht in der Bekämpfung des KLA-(UÇK-)Terrors barbarisch verhalten. Jedoch wurden 80 Prozent der Brüche des Waffenstillstandes, zwischen Oktober und Februar, von der KLA begangen. Es war kein Krieg der ethnischen Säuberung zu dieser Zeit. Wenn wir die Lage korrekt analysiert hätten, hätten wir versucht den Waffenstillstand zu unterstützen und nicht die ganze Schuld auf die Serben geschoben.“

Vieles spricht dafür: Bei einem frühzeitigen Bekanntwerden dieses Teil des Vertrages wäre es zumindest aufseiten der deutschen rot-grünen-Bundesregierung des Kanzlers Gerhard Schröder (SPD) erheblich schwerer, wenn nicht ausgeschlossen gewesen, für den NATO-Krieg die erforderliche Unterstützung in der Koalition und in der Öffentlichkeit zu mobilisieren.

Anmerkung

Für die Zwei-Quellen-Regel beziehungsweise das Zwei-Quellen-Prinzip gibt es viele gute Gründe. Gerade bei Veröffentlichung von brisanten Informationen gilt eine hohe journalistische Sorgfaltspflicht. Dazu hat es sich in aller Regel als sinnvoll erwiesen, unabhängig von der ersten stets eine zweite Quelle ausfindig zu machen, um die brisante Information noch einmal von einer anderen Seite bestätigt zu bekommen.

Schließlich: Gerade bei augenscheinlich brisanten Informationen gilt es, die Gefahr zu beachten, dass es auch Interessen von bestimmten Kreisen geben mag, Journalisten zu instrumentalisieren und sie dazu zu bringen, falsche Informationen zu veröffentlichen. Doch, dies zeigt die Geschichte, die Zumach erzählt, eindrucksvoll: Die zweite Quelle findet sich nicht immer oder kann zumindest nicht zum Sprechen gebracht werden. Wie soll nun ein Journalist vorgehen in einem Fall, der so weit reicht, wie der von Zumach geschilderte?

Vielleicht können die nun folgenden Ausführungen Zumachs eine Diskussion innerhalb des Journalismus anstoßen, die dazu führt zu erkennen, dass eine allzu dogmatische Anwendung der Zwei-Quellen-Regel auch negative, ja schädliche Folgen haben kann.

Aussagen von Zumach

(Vorbemerkung: Die hier veröffentlichte Fassung weicht leicht von dem Vortrag von Zumach auf der Kasseler Konferenz ab. Die Aussagen wurden von Zumach redigiert und klarer gefasst, aber ohne eine inhaltliche Veränderung vorzunehmen)

„(…). Dazu gehört als eiserne Regel, mindestens immer zwei voneinander unabhängige Quellen zu haben, insbesondere in Kriegs- und anderen Konfliktsituationen, in denen die ‚Wahrheit‘ besonders umstritten ist. Und ich kann nur an uns alle als Individuen — in erster Linie natürlich an die journalistischen Profis unter uns, aber auch an alle anderen, die mit Smartphones und anderen Geräten, Informationen, Bilder et cetera weiter verbreiten — appellieren, diese Regel eisern einzuhalten, selbst wenn wir unter massivem Druck sind. Ich gebe gerne zu, das ist verdammt schwer.

Kurt Gritsch hat mich vorhin in seiner Studie zum Kosovokrieg an die schwierigste Zeit meiner dreißigjährigen journalistischen Laufbahn erinnert. Das waren die fünf Wochen vor diesem völkerrechtswidrigen Krieg, den die NATO am 24. März 1999 mit Luftangriffen gegen Ziele in Serbien begann. Ich war als Journalist in Rambouillet bei den gemeinsam von der EU, den USA und Russland moderierten Verhandlungen zwischen der serbischen Regierung von Präsident Milosevic und der UCK, der albanischen ‚Befreiungsbewegung‘ im Kosovo.

Den Annex B, den von den USA formulierten geheimen Zusatz zu dem Entwurf für ein Abkommen zwischen beiden Seiten, in dem der Regierung Milosevic ultimativ die Zustimmung zur Stationierung von NATO-Truppen in Serbien abverlangt wurde, bekam ich bereits am ersten Tag der Rambouillet-Verhandlungen, am 5. Februar 1999. Nicht von den Serben, wie Bundesaußenminister Fischer damals behauptet und mich als Agent von Milosevic denunziert hat, sondern von der Delegation der UCK. Die Amerikaner hatten der UCK den Annex B bereits vor Verhandlungsbeginn vorgelegt.

Die serbische Seite erhielt das Dokument erst am vorletzten Verhandlungstag und ihre Unterschrift unter den Annex B wurde zur Bedingung erklärt für ein Abkommen. Nun musste ich natürlich recherchieren. Stimmt das? Oder werde ich hier mit einem gefälschten Papier auf eine falsche Fährte gesetzt? Ich habe mich fünf Wochen lang bemüht. Bei den Amerikanern, bei den Deutschen, bei dem EU-Vermittler Petritsch und bei den Russen, um eine Bestätigung zu bekommen, ob das Papier wirklich so vorliegt.

Ich habe diese Bestätigung bis zum Kriegsbeginn am 24. März leider nicht bekommen. Deswegen habe ich es nicht veröffentlicht. Die Bestätigung erhielt ich erst am 5. April. Am 6. April habe ich es in der taz veröffentlicht. Es hat noch sehr viel Furore gemacht. Außenminister Fischer ist damals fast gestürzt. Denn er hat ja nicht nur auf der ideologischen Ebene der Kriegspropaganda seine ‚Ausschwitz-Lüge‘ verbreitet, indem er die serbischen Menschenrechtsverletzungen gegen die Kosovo-Albaner mit dem Holocaust verglich. Sondern Fischer hatte das deutsche Parlament und die Öffentlichkeit ja auch glatt belogen.

In der Debatte über die Zustimmung des Bundestages zur Beteiligung der Bundeswehr an diesem völkerrechtswidrigen Krieg hatte Fischer wahrheitswidrig behauptet, dass ‚alle diplomatischen Bemühungen ausgeschöpft‘ worden seien. Und jetzt stellen wir uns mal vor — darüber habe ich bis heute schlaflose Nächte — dieser Annex B wäre bereits vor dem Beginn des Krieges am 24 März öffentlich geworden. Möglicherweise — das kann ich natürlich nicht beweisen — hätten wir eine andere Dynamik in der innenpolitischen Diskussion bei uns gehabt.“

Diskussion

Nach diesen Ausführungen Zumachs stellte der Moderator der Podiumsdiskussion, der Bundesverwaltungsrichter a.D. Dieter Deiseroth, dem Journalisten die Frage, ob dieser im unmittelbaren Vorfeld des Kosovo-Krieges die ohne Zweifel wichtige „Zwei-Quellen-Regel“ wirklich sinnentsprechend und undogmatisch verstanden und angewandt habe. Wenn damals alle von Zumach angesprochenen Insider die Existenz des NATO-Vertragsentwurfes mit dem Annex B weder hätten bestätigen noch dementieren wollen, hätte Zumach nicht genau dies sofort publizieren sollen und vielleicht auch müssen, um eine öffentliche Debatte darüber zu ermöglichen, wollte Deiseroth wissen. Schließlich sei es ja um wichtige Informationen zur bevorstehenden Entscheidung über einen Bombenkrieg mit schlimmen Folgen gegangen. Zumachs Antwort: Deshalb quäle ihn sein damaliges Verhalten bis heute.

Schlussbemerkung

Zumach betonte auf Nachfrage im Vorfeld der Veröffentlichung dieses Beitrages noch einmal, er habe damals in der Situation nicht „sicher wissen“ können, ob eine Vorabveröffentlichung tatsächlich den Kosovo-Krieg oder zumindest „die Beteiligung Deutschlands an diesem Krieg verhindert hätte“.

Er sagte, er würde sich grundsätzlich dann nicht an die „Zwei-Quellen-Regel“ halten, wenn er sicher wüsste, „dass es gar keine zweite Quelle geben kann, beziehungsweise ich sicher sein kann, dass ich von der zweiten Quelle keine Auskunft bekommen werde“.

Als Beispiel nannte er eine Situation, in der jemand zu ihm komme und sage, er sei gefoltert worden. Wenn als zweite Quelle nur der Folterer in Frage käme, würde er — „klar gekennzeichnet als Vorwurf des mutmaßlichen Opfers“ — die Vorwürfe dennoch veröffentlichen.

Außerdem: Angesprochen auf den Wikipedia-Eintrag zum Rambouillet-Vertrag, wo es heißt, dass es am 18. März 1999 eine „schwach besuchte Pressekonferenz“ in der „Jugoslawischen Botschaft“ gegeben habe, bei der bereits der Annex B der Öffentlichkeit vorgestellt worden sei, sagte Zumach, dass ihm von dieser Pressekonferenz nichts bekannt gewesen sei. Er merkte an, dass eine „Jugoslawische Botschaft“, wie es in dem Wikipedia-Eintrag heiße, „bereits seit 1991 nicht mehr“ existierte. In dem Beitrag auf der Internetplattform finden sich dazu außerdem keine Ortsangaben. „In welcher Botschaft (also: wo?) das gewesen sein soll, wird in Wikipedia nicht gesagt“, so Zumach.

Über den Autor Marcus Klöckner:

Er studierte Soziologie, Medienwissenschaften und Amerikanistik. Sein Weg in die Medien führte ihn über den Lokaljournalismus zum politischen Journalismus. Der herrschafts- und medienkritische Blick ist Markenzeichen seiner Abeit. Im Sinne der Soziologie von Pierre Bourdieu und Charles Wright Mills lüftet er den Schleicher von Macht- und Herrschaftsverhältnissen in unserer Gesellschaft. Er ist Mitherausgeber des Klassikers der Soziologie „Die Machtelite“, einer Studie über die Verwerfungen in der US-Demokratie. Zuletzt erschienen von ihm „Sabotierte Wirklichkeit: Wenn Journalismus zur Glaubenslehre wird“ und „Zombie-Journalismus: Was kommt nach dem Tod der Meinungsfreiheit?“. Weitere Informationen unter twitter.com/KlocknerMarcus.

 

Marcus Klöckner/Initiative zur Demokratisierung der Meinungsbildung gGmbH, Foto: Journalist bei der Arbeit © Fotoshooting.vip