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Der Krebs des Wirtschaftssystems

Veröffentlicht von PSM.Media

Dynamik des prozentualen Zinses führt zu einem ungesunden Wachstumszwang und letztendlich in den Untergang

Früher dachte man, Geld bringe Zinsen, und das gebe uns Sicherheit für die Zukunft. Da war Geld knapp und ein begehrter Stoff. In Zeiten des Geldüberflusses dagegen sind Zinsen rational nicht mehr vertretbar. Das ist leicht zu erklären: Sobald jemand 5 Prozent oder auch nur 3 Prozent Zinsen garantiert und bereit ist, das auf beliebig große Einlagen zu zahlen, wird er mit Geld überschüttet, bis er sein Angebot zurücknimmt. Und wenn jemand Geld zu 5 Prozent Zinsen ausleihen wollte, kommt sofort eine andere Finanzquelle und bietet für sichere Kredite — an Staaten — die 4, 3 oder 2 Prozent an. Jeder Zinssatz wird unterboten, weil Geld im Überfluss vorhanden ist. Also landen die Zinsen auf natürliche Weise bei Null.

Zinsen, Wachstum, Wahnsinn

Das ist die aktuelle Situation. Die leichte Erhöhung der Zinsen 2022 durch die Federal Reserve (FED, Zentralbanksystem der USA) über den Wert null hat taktische und politische Gründe, und die Europäische Zentralbank (EZB) hat es nachgemacht.

Null Zinsen sind unumgänglich, nur Gebühren sind noch angebracht, und negative Zinsen sind besser, aber sie greifen sichtbar die herkömmliche Vorstellung vom Geld an.

Zinsen sind im Finanz- und Wirtschaftssystem traditionell entscheidend.

Man könnte aber auf Zinsen verzichten und Geldanlagen mit einem Anteil an den Gewinnaussichten motivieren. Dazu will ich ein positives Beispiel aus persönlicher Erfahrung bringen. Es liegt schon ein paar Jahre zurück, ist aber immer noch gültig und hat zur Voraussetzung, dass eine Partei reichlich Geld hat und die andere ein Projekt — heute sagt man, die Idee für ein Start-up —, an dem beide ein gemeinsames Interesse haben.

Wir wollten einen Musik-Klub eröffnen und hatten dazu eine Gaststätte entdeckt, die zu mieten war, mit einem Tanzsaal, wie man ihn früher auf vielen Dörfern fand. Der Ort war kein Dorf mehr, sondern nach Köln eingemeindet. Der Tanzsaal war, weil es kein Schützenfest und keine Kirmes mehr gab, seit zwanzig Jahren nicht benutzt worden, er war aber noch voll intakt und konzessioniert. Man hätte in dem gesamten Objekt, Gaststätte, Nebenraum und Tanzsaal, Veranstaltungen mit bis zu 500 Gästen durchführen können. Und genau das hatten wir vor.

Um aus der ehemaligen Dorfgaststätte eine Location zu machen, die junge Leute in der weiteren Umgebung anzieht, brauchten wir nur 10.000 DM, die wir nicht hatten, für gebrauchte Verstärker einer gescheiterten Rockgruppe und entsprechende Lautsprecher, ein paar Eimer Farbe, etwas Akustik-Material und ein DJ-Pult. Die Ideen und die Schallplatten für das musikalische Programm glaubten wir schon zu haben. Die Zahl 10.000 DM hört sich gering an, und es ist auch echt wenig, aber beim Publikum kommt es immer gut an, wenn Leute mit Enthusiasmus und wenig Geld so einen großen Laden eröffnen.

Das Geld bekamen wir von einem Aufsteller von Spielautomaten. Wir planten, gleich am Eingang ein paar Flipper hinzustellen, die auch dann gut laufen, wenn noch nichts los ist. So eine Location muss sich ja erst einmal mit Publikum füllen, das kann ein paar Stunden dauern. Der Automatenaufsteller sah das genauso und spendierte uns einen zinslosen Kredit von 10.000 DM ohne feste Rückzahlverpflichtung. Das Geld sollte dann von den wöchentlichen Einnahmen der Automaten einbehalten werden.

Der Automatenaufsteller beteiligte sich also mit 10.000 DM an dem Geschäft und erhielt als Gewinnbeteiligung zunächst die vollen Automaten-Einnahmen, bis die Schuld abgetragen war, und danach wurde dann 50:50 geteilt. Das ist im Prinzip völlig verschieden von einem Bankkredit und wesentlich organischer, weil es auf dem gemeinsamen Interesse beruht, dass der Laden läuft.

Um es kurz zu machen: Das Geschäft lief mehr als fünf Jahre, dann hatten wir genug von dem Geschäftsmodell Musik-Klub, denn das ist ein äußerst anstrengendes Geschäft. Ich habe in der Zeit 20.000 Plakate nicht nur entworfen und drucken lassen, sondern auch eigenhändig verklebt, nebst den entsprechenden Autofahrten, teilweise nachts, im Winter und am frühen Morgen.

So lernt man, die Finanzierungsmethoden der Banken auf einer realitätsnahen und partnerschaftlichen Basis zu unterlaufen. Banker dagegen denken anders, und sie sind fast überall maßgebend. Das Bankengeschäft basiert seit Jahrhunderten auf Zinsen, und das hat entscheidende Folgen für die gesamte Wirtschaft. Jemand, der ein Geschäft mit zu wenig Geld aufmachen oder erweitern will, geht zur Bank und bekommt einen Kredit bei Zinsen, die, wenn man genau hinschaut, beachtlich sind. Damit der Einsatz sich lohnt, muss der Gewinn aus dem mit Kredit finanzierten Geschäft höher sein als die Tilgung, die an die Bank zu zahlen ist. Das alles wird, weil die Banker nichts anderes kennen und die Wirtschaft sich ihnen anpasst, in Prozenten berechnet. Nach dem Erhalt des Bankkredits muss der erreichte Bruttogewinn über den Zinssatz steigen, in Prozenten gemessen, und das von Anfang an.

Bei unserem Projekt Musik-Klub wäre das unmöglich gewesen. So ein Klub braucht, wie die meisten Geschäfte, eine Anlaufzeit. Darum sind die Erben von Unternehmen und Vermögen als Jungunternehmer so sehr begünstigt. Im aktuellen Wirtschaftsgeschehen finanziert ein großer Teil aller Unternehmen seine Geschäfte und Investitionen mit Krediten. Das gilt besonders für Neugründungen. Damit alle Bankforderungen erfüllt werden können und Kredite sich auch gesamtwirtschaftlich für die zahlreichen Unternehmen und Banken lohnen, sollte, aus simpler, aber höherer Perspektive betrachtet, die Wirtschaft insgesamt wachsen.

Aus Sicht der Helikopter-Ökonomen ist die gesamte Volkswirtschaft dann in Ordnung, wenn das Wirtschaftswachstum etwa 5 Prozent oder etwas mehr beträgt.

Weil die Finanzbranche nur prozentual denken kann, anders als unser vernünftig denkender Automatenaufsteller — er war kein BWL-Akademiker und hatte seine Methode der Finanzierung selbst entwickelt —, soll nach Ansicht der Regierung die Wirtschaft immer weiter und weiter und immer um etwa 5 Prozent wachsen. Alles andere wird vom Denken ausgeschlossen oder als Verlust angesehen.

Das prozentuale Wirtschaftswachstum ist im Bewusstsein von Banken, Unternehmen, in der Betriebswirtschaft und leider auch in der Sicht von Politikerinnen und Politikern zu einem absoluten Fetisch geworden. Dieses Denken ist unnatürlich und falsch, aber es hat eine einfache Ursache: Wirtschaft auf Basis von Krediten mit festen positiven Zinsen. Das ist kein Naturgesetz, sondern es ist eine Konvention. Sie wurde von den Banken der realen Wirtschaft auferlegt, in Zeiten, als das Geld noch knapp war. Jetzt aber ist, durch die Loslösung des Dollars vom Gold und durch die unbegrenzte Kreditvergabe mit neu geschaffenem Geld, eine Geldmenge in vielfachem Überfluss vorhanden, und Geldverleih gegen Zinsen ist nicht mehr angemessen. Im Gegenteil, die Geldbesitzer müssten betteln: Macht doch bitte was mit meinem Geld, hier habt ihr es.

Das Wachstum von Lebewesen dagegen ist ein natürlicher Prozess, welcher bis zum Erwachsensein führt, wenigstens bei Mensch und Tier, und dann beendet ist. Riesenwuchs ist eine Krankheit.

Die These, dass wer nicht wächst, untergeht, ist unnatürlich und aggressiv, sie basiert auf dem Zinsgebot der Banken plus einer guten Portion Größenwahn und Egoismus.

Eine Firma kann wachsen, bis das Unternehmen gesund und ausgelastet ist und die Eigentümer zufrieden sind. Die Idee, dass man immer mehr haben und immer expandieren muss, ist eine aufgezwungene Ideologie aus der Welt der Finanzen und vertritt deren Interessen, an Krediten zu verdienen. Die Forderung wird fatal, wenn man sie auf die Gesamtwirtschaft und auf das sogenannte Bruttosozialprodukt anwendet. Für die Gesamtwirtschaft ist das Wachstumspostulat nicht nur biologisch, sondern auch mathematisch falsch. Prozentuales Wachstum, immer wiederholt, führt zum exponentiellen Wachstum.

Nehmen wir, um es deutlich zu machen, ein Wachstum von 10 Prozent an, und die Ausgangsgröße sei ein Jahresumsatz von 100 Millionen. Dann sollen es im nächsten Jahr 110 Millionen sein. Und im folgenden Jahr nicht wieder 110, auch nicht 120, sondern 121 und dann 133,1, und im vierten Jahr sollen es 146,41 Millionen sein. Das heißt, auch der Anstieg steigt mit der vorhandenen Größe. Genau das darf aber so nicht sein, denn es führt zu einer Wachstumsfunktion, die Mathematiker Exponentialfunktion nennen. Sie hat kein Maximum und keine Sättigung wie natürliches Wachstum von Menschen, Tieren und fast allen Pflanzen.

Die Exponentialfunktion, die auf der Forderung von prozentualem Wachstum basiert, strebt immer schneller gegen Unendlich. Dabei steigt aber nicht nur der Gewinn an Geld, sondern, wie schon gesagt, es steigen alle anderen Größen exponentiell mit, auch die unerfreulichen: Der Verbrauch von Ressourcen, die Belastung der Menschen und der Umwelt, der Energieverbrauch, der CO2-Ausstoß — und das bewirkt schließlich die Erderwärmung.

Was Exponentialfunktionen sind, lernt man in einem naturwissenschaftlichen Gymnasialzweig in der elften oder zwölften Klasse. Wer es nie gelernt hat, weiß es halt nicht, kann aber trotzdem nicht ein prozentuales Wachstum fordern, auch dann nicht, wenn er Regierungsmitglied ist und glaubt, über den Dingen zu stehen. Niemand steht über den Gesetzen der Mathematik und über den Naturgesetzen. Sie galten schon, ehe der Mensch aufgestanden ist, und sie werden noch gelten, wenn es keine Menschen mehr gibt. Ignoranz darf nicht zum Handlungsprinzip werden, auch dann nicht, wenn alle meinungsbildenden Medien mitspielen.

Die Folgen des exponentiellen Wirtschaftswachstums sind seit fünfzig Jahren vorhergesagt und sind jetzt überall zu beobachten: Umweltzerstörung, Verknappung von Ressourcen, Klimawandel.

Der Fetisch Wirtschaftswachstum wird trotzdem weiter angebetet und darf nicht unterbrochen werden. Und je weniger Politikerinnen und Politiker von Biologie, Physik, Mathematik und den Relationen großer Zahlen verstehen, desto weniger sind sie bereit, die unausweichliche Realität anzuerkennen, dass prozentuales Wirtschaftswachstum in den Untergang führt.

Die Wirtschafts- und Staatenlenker sind im Sinne der feudalen Finanzmacht bereit und in der Lage, mithilfe konformer Medien und Journalisten Andersdenkende, sogar mathematisch korrekt denkende Realisten, von jeder maßgebenden Diskussion, von den Medien, von den Bildungsprogrammen und erst recht von der Macht auszuschließen.

Über den Rob Kenius:

Er ist Systemkritiker, freier Publizist und Buchautor. Er betreibt die Webseite kritlit.de und schreibt oder schrieb für oppositionelle Medien: Telepolis, Rubikon, apolut, Krass&Konkret, Ossietzky und jetzt Manova. Von ihm erschienen die politischen Sachbücher „Hunderttausend Milliarden zu viel — Finanzfeudalismus aus rationaler Sicht“, „Geld stinkt zum Himmel — Weniger Zunder mehr Zukunft“, „Leben im Geldüberfluss“, „Überleben im Überfluss“ und „Neustart mit Direkter Digitaler Demokratie“.

 

Rob Kenius/Initiative zur Demokratisierung der Meinungsbildung gGmbH, Foto: Systembild © IStock