Finanzdisziplin gefordert: FDP-Chef Lindner appelliert an verantwortungsbewussten Umgang mit verbleibenden Mitteln
Berlin. In der Bundesregierung zeichnet sich eine Entwicklung ab. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts stürzt die Koalition in eine drängende Haushaltskrise. Im Gegensatz zur SPD und den Grünen fordert der FDP-Chef Lindner, ausschließlich mit dem noch verfügbaren Geld zu wirtschaften. Einige Parallelen zu Genscher im Jahr 1982 werden deutlich, als der SPD-Kanzler Schmidt die Koalition aufkündigte.
Die Ampel-Koalition steht vor einer ernsthaften Belastungsprobe. In Berlin gibt es zunehmende Anzeichen dafür, dass die FDP die Teilnahme an der Regierung in Frage stellt, wenn Grüne und SPD nicht bereit sind, eine grundlegende Kursänderung in der Finanzpolitik vorzunehmen. Als Warnung hat Bundesfinanzminister Christian Lindner bereits eine Haushaltssperre für einen Großteil des Bundeshaushalts im Jahr 2023 angeordnet. Aus Kreisen der FDP-Bundestagsfraktion ist zu vernehmen, dass die Wahrscheinlichkeit für das Ende der Koalition “noch in diesem Winter” nahezu “stündlich zunimmt”.
Nachdem das Bundesverfassungsgericht die Finanzstrategien der Ampelkoalition abgelehnt hat, ist ein grundlegender Meinungsunterschied entstanden. SPD und Grüne streben Steuererhöhungen, neue Kredite und eine vorübergehende Aussetzung der Schuldenbremse an, um zusätzliche Mittel für ihre Ausgabenpläne zu beschaffen. Der grüne Vize-Kanzler Robert Habeck äußerte sich dazu: “Daher müssen wir die finanziellen Mittel an anderer Stelle finden oder mobilisieren.” Die FDP hingegen lehnt dies vehement ab. Für FDP-Chef Lindner sind bestimmte Prinzipien nicht verhandelbar: “Einerseits die Schuldenbremse, bei der wir nun neue Rechtssicherheit haben, und andererseits der Verzicht auf Steuererhöhungen.” Gegenseitige Vorwürfe werden bereits laut, und der Ton verschärft sich.
Im Gegensatz zu früheren Meinungsverschiedenheiten in der Koalition geht es diesmal nicht um ein einzelnes Gesetz, sondern um den Masterplan der Ampelpolitik – und die FDP scheint entschlossen zu sein, hart zu bleiben.
“Wir haben kein Einnahmeproblem”
Lindner äußert sich in einem sehr ernsten Ton zu einem entscheidenden Moment in der Geschichte der Bundesrepublik. Er betont die Notwendigkeit eines ehrlichen “Neustarts” für die Staatsfinanzen und ruft zur Umsetzung einer neuen Realpolitik auf. Lindner warnt davor, dass die Politik mit weniger finanziellen Ressourcen effektiver agieren müsse als in den vergangenen zehn Jahren. Er erklärt, dass das eigentliche Problem nicht ein Mangel an Einnahmen sei, sondern vielmehr die Schwierigkeit, über viele Jahre hinweg klare Prioritäten zu setzen.
Lindner schlägt eine umfassende Staatsreform vor, die auf weniger Bürokratie, agiler Verwaltung, Technologiefreundlichkeit und der Mobilisierung privaten Kapitals für Investitionen basiert. Er unterstreicht die Notwendigkeit für jeden, anzuerkennen, dass immer weiter steigende Erwartungen an den Staat nicht erfüllt werden können. Dieser Ansatz steht jedoch im klaren Gegensatz zum Politikverständnis von SPD und Grünen.
Die bereits angespannte Situation der Ampelkoalition wird durch die Haushaltskrise weiter verschärft. Die Regierung hat bereits Schwierigkeiten, die Herausforderungen der Migrations- und Wirtschaftskrise zu bewältigen, da die Vorstellungen, insbesondere von FDP und Grünen, weit auseinandergehen. Hinzu kommt die Unsicherheit darüber, ob der Wirtschaftsstabilisierungsfonds (und damit die Strom- und Energiepreisbremsen) einer Verfassungsprüfung standhalten wird. Selbst der laufende Haushalt muss möglicherweise völlig neu und deutlich sparsamer überarbeitet werden. Der Bundesrechnungshof hat bereits erklärt, dass er die Bundeshaushalte für dieses und das kommende Jahr nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts in verfassungsrechtlicher Hinsicht für äußerst problematisch hält.
Westerwelle vor Augen
Die Koalition taumelt aufgrund innerer Zerwürfnisse und miserabler Umfragewerte einem möglichen Zusammenbruch entgegen. Bereits bei der Europawahl steht den Ampelparteien ein Desaster bevor, da die AfD möglicherweise zur stärksten Partei aufsteigt. Das bisherige Kanzlerkonzept des leisen Durchwurschtelns wird angesichts der Haushaltskrise voraussichtlich nicht mehr funktionieren, da harte Konsequenzen erforderlich sind. Besonders bei den Liberalen herrscht nicht nur Nervosität und Enttäuschung, sondern zunehmende Wut, da es um das politische Überleben der FDP geht.
Bisher konnte die FDP ihren Wählern kaum überzeugend erklären, dass sie Schlimmeres verhindert habe. Jetzt jedoch steht die Partei vor der großen Herausforderung, in der fundamentalen Frage der Standhaftigkeit zu zeigen, um ihre Glaubwürdigkeit zu bewahren.
Lindner und seine Parteifreunde haben die schmerzhaften Erinnerungen an das FDP-Trauma mit Guido Westerwelle noch frisch vor Augen. Westerwelle trug die Verantwortung für den Absturz der FDP aus der Bundestagsfraktion im Jahr 2013, nachdem sie nur eine Legislatur zuvor ein Rekordergebnis von 14,6 Prozent im Jahr 2009 erzielt hatte. Dies geschah, weil er es versäumte, der Bundespolitik ein klares liberales Profil zu verleihen, was dazu führte, dass enttäuschte Bürgerliche letztendlich wieder zur CDU zurückkehrten. Etwas, das Lindner um jeden Preis vermeiden möchte.
In der FDP nimmt nun das Narrativ der “Genscher-Wende” eine zentrale Rolle ein. Immer mehr Liberale raten Lindner dazu, nicht wie Westerwelle blindlings in den Abgrund zu stürzen, sondern eher wie Hans-Dietrich Genscher im Jahr 1982 die Regierung vorzeitig platzen zu lassen. Genscher brach damals mit dem damaligen SPD-Kanzler Helmut Schmidt, weil dieser sich gegenüber seinem linken Parteiflügel kaum noch durchsetzen konnte. Deutschland litt unter einer schweren Energiekrise, und die Staatsfinanzen gerieten außer Kontrolle. Die Parallelen sind unverkennbar. Die gegenwärtige Haushaltskrise könnte daher dazu führen, dass Lindner nicht den Weg von Westerwelle geht, sondern eher in die Fußstapfen von Genscher tritt und die unpopuläre Koalition in der düsteren Dezember-Stimmung platzen lässt.
Am 5. Dezember 1982 veröffentlichte Genscher das bedeutende Dokument “Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit”, in dem sein Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff eine zentrale Rolle spielte. Dieses Papier markierte das Ende der sozialliberalen Ära. Die Schrift von Lambsdorff könnte heute beinahe als Vorlage für Christian Lindner dienen, da sie solide Staatsfinanzen, Schuldenreduzierung, strikte Haushaltskonsolidierung, Umschichtung öffentlicher Ausgaben, mehr Handlungsspielraum für die Privatwirtschaft und eine “relative Verbilligung des Faktors Arbeit” forderte. Ähnlich provokativ wie die aktuellen Aussagen von Lindner im Rahmen einer “neuen Realpolitik” waren Lambsdorffs Forderungen damals eine Herausforderung für die Sozialdemokratie.
PSM.Media- Nachrichtenagentur, Foto: Bundesfinanzminister Christian Lindner © Bundesministerium der Finanzen / Photothek